Gewalt hat viele Formen und zu einem Großteil betrifft sie immer noch Frauen. Gewalt ist nicht geschlechtsneutral. Warum ist das so und wodurch wird dieser „Trend“ begünstigt? Und wie kann man diesen aufhalten und was braucht es dafür?
Zu Gast ist Mag.a Sabine Ruppert, Leiterin der Stabsstelle für Missbrauchs- und Gewaltprävention der Erzdiözese Wien.
Wichtige Kontaktstellen:
Polizei: 133
Frauennotruf: 0171719
Männerberatungsstelle: 016032828
Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche: 013196645
Rat auf Draht: 147
Telefonseelsorge: 142
Frauen beraten Frauen: 015876750
gewaltinfo.at
„Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Joh 8,32), Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich - Maßnahmen, Regelungen und Orientierungs-hilfen gegen Missbrauch und Gewalt: https://www.erzdioezese-wien.at/dl/mOOoJKJLKm
Die_Wahrheit_wird_euch_freimachen
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Geschlecht ist nicht etwas, das wir einfach „haben“ oder „sind“, sondern etwas, das wir tun. Wir stellen täglich miteinander Weiblichkeit und Männlichkeit her, durch sprachliche Bezeichnungen und Zuschreibungen, (in der Kleidung), in der Körperhaltung, wie wir sitzen, stehen, gehen und den Raum einnehmen bis hin zur Frage, wer die Wäsche wäscht und die Kinder betreut. Gender – unser soziales und kulturelles Geschlecht - sitzt nicht zwischen den Beinen, sondern zwischen den Ohren, in unseren Köpfen und da wirkt eine jahrhundertelange patriarchale Tradition bis heute weiter. Es wäre auch ein Wunder, wenn sich alle Reste schon aufgelöst hätten, z.B. sind Frauen in Österreich erst seit 100 Jahren zum Studium zugelassen.
Es wird zwar behauptet, Männer und Frauen wären heute längst gleichberechtigt und wir hätten diesen anstößigen Feminismus doch nicht mehr nötig. Tatsache ist: Wir leben in widersprüchlichen Zeiten: Es gibt Anzeichen einer Auflösung der Geschlechterdifferenz ebenso wie Anzeichen einer neuen Dramatisierung derselben. Die Geschlechterrollen sind heute so flexibel wie noch nie – ein Mädchen kann Pilotin werden, ein Bub kann Kindergärtner werden - aber gleichzeitig bleibt die klassische Geschlechterordnung in vielen Bereichen wirksam: die Lohnschere, der geringe Frauenanteil in Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft, die Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit (wer bleibt bei den Kindern zuhause), Gewalt in der Familie, Gewalt gegen Frauen, sexistische Bilderflut in Werbung und Medien, bis hin zu den Schultaschenabteilungen getrennt für niedliche, rosarote Prinzessinnen und kluge, wilde Piraten.
Wir alle sind männlich oder weiblich sozialisiert, mit bestimmten Normen und Idealbildern. Je bewusster wir uns dessen sind, desto freier werden wir im gemeinsamen Denken und Wahrnehmen. Die Geschlechterordnung des Entweder-Oder in Bewegung zu bringen, kann einen Freiheitsgewinn für alle bedeuten. Dazu ist es sinnvoll, unsere impliziten normativen Vorstellungen davon, was eine Frau oder einen Mann ausmacht, explizit zu machen, zur Sprache zu bringen und damit verhandelbar zu machen. Das bedeutet auch, den Doppelstandard geschlechtsspezifischer Bewertung sichtbar zu machen und zu hinterfragen, etwa wenn dasselbe Verhalten bei einem Mann als „durchsetzungsfähig“ gilt, bei einer Frau hingegen als „aggressiv“, „bossy“. Sprache ist verräterisch: Wir sprechen vom angeblichen „Zickenkrieg zwischen hysterischen Frauen“ während Männer halt „leidenschaftlich im Streitgespräch diskutieren und eine gesunde Konkurrenz miteinander haben“, wir sprechen von „Rabenmutter“ oder „Karrierefrau“, wenn eine Frau eine eigenständige Berufslaufbahn verfolgt und nicht dauernd zuhause bei den Kindern sein will, es gibt aber keine entsprechenden Begriffe wie „Rabenvater“ oder „Karrieremann“.
Der niederländische Genderforscher Jens van Tricht hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Warum Feminismus gut für Männer ist“ und er meint darin, dass Männer so gewöhnt sind an ihre jahrhundertealten Privilegien, dass sie Gleichstellung als Benachteiligung erleben. Die erste Frau, die vor einigen Jahren erst bei den Philharmonikern aufgenommen wurde, musste sich mit Reaktionen auseinandersetzen, sie würde einem Mann den Job wegnehmen – als würden diese Plätze grundsätzlich Männern zustehen und eine Änderung, dass das neue Kriterium Leistung und nicht Geschlecht sein sollte, wurde als Benachteiligung erlebt.
In einer patriarchalen Kultur zu leben, bedeutet für Männer und Frauen, dass sie in ihrem Denken, Fühlen und Handeln Dynamiken unterworfen sind, die für alle Geschlechter leidvoll und einschränkend sind (Stichwort „toxische Männlichkeit“, Bestrafung für „unmännliches“ Verhalten).
Die Normalität bleibt meist unsichtbar, unhinterfragt. Wenn diese Normalität eine Realität der Geschlechterungleichheit und der einschränkenden Geschlechterbilder ist, dann bedarf es der Auseinandersetzung mit herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen und den eigenen Verstrickungen in diese – auch wenn wir uns als „modern“ und „offen“ erleben. Die Beziehung ist ein Spiegel der Gesellschaft, darum braucht es viel kritische (Selbst-)Reflexion, um Möglichkeitsräume überhaupt wahrzunehmen und für die Ratsuchenden zu eröffnen, anstatt bestimmte Geschlechterrollen als selbstverständlich oder gar notwendig hinzunehmen.
Männer erleben mehr Gewalt im öffentlichen Raum und sind besonders als Jugendliche und junge Männer gefährdet, Opfer von körperlichen Übergriffen zu werden, allerdings weit überwiegend durch andere Männer. Gewalt gegen Frauen ist überwiegend Gewalt durch männliche Beziehungspartner und sie wird in den meisten Fällen im häuslichen Bereich verübt. Mindestens jede 5. Frau erfährt mindestens 1x in ihrem Leben Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner (FRA-Studie 2014 – Agentur der EU für Grundrechte ergab: sogar eine von drei Frauen über 14 hat mindestens 1x körperliche/sexualisierte Gewalt erlebt).
Gewalt ist nichts, was „einfach passiert“, sondern ein Mittel, das zu einem bestimmten Zweck eingesetzt wird, nämlich um Macht und Kontrolle über Menschen zu erlangen. Gewalt von Männern gegen ihre (Ex)Beziehungspartnerinnen ist kein Problem von „Randgruppen“, sondern ein Problem aller sozialen Gruppen! Der gefährlichste Ort für eine Frau ist ihr eigenes Zuhause, ihre eigene Partnerschaft. Das ist ein gesellschaftliches Tabu, von dem mit der Figur des unbekannten Täters abgelenkt werden soll (Rassismus und Sexismus verschränken sich im propagierten bösen Fremden/Flüchtling). „Bleibt nachts in dunklen Gassen!“ lautete darum ein Slogan der autonomen Frauenbewegung.
Frauen und Männer werden sozialisiert, ihre Gefühle unterschiedlich zu zeigen. Viele Frauen, die Gewalt erlebt haben, berichten, wie sehr sie sich dafür schämen und dass sie sich als unfähig erleben, selbst zornig zu werden. Sie erleben sich als unfähig, dem Zorn dessen, der sie angreift, ebenfalls mit Zorn über diese Grenzüberschreitung entgegenzutreten. Nicht selten geben sich geschlagene Frauen selbst die Schuld an den Übergriffen und reagieren sozusagen stellvertretend mit Scham auf die Verletzung, die ihnen zugefügt wurde. Die Psychotherapeutin Brigitte Schigl spricht von der „androgynen Nachsozialisation“ der jeweils gegengeschlechtlichen Anteile, und zwar ganz konkret in der Körperhaltung, Mimik, Gestik, der Art den Raum einzunehmen, aufzutreten und zu sprechen. Das bedeutet eine Erweiterung des Ausdrucksrepertoires für beide Geschlechter. Verhalten, das nicht mit den Geschlechterrollen konform ist, kann gesundheitsfördernd wirken – für Frauen ebenso wie für Männer. Ein Ziel für Mädchen und Frauen könnte sein: den eigenen Zorn nicht mehr zu fürchten, sondern zur Selbstbehauptung zu nützen. Den Zorn gegen ungerechte Behandlung zuzulassen, nicht immer wieder hinunterzuschlucken und in Form von Depressionen, Ängsten, psychogenen Schmerzen oder Essstörungen gegen sich selbst zu wenden, sondern ihn zum Ausdruck zu bringen.
Ein Beispiel aus der Populärkultur: „She-Hulk – die Anwältin“ (Marvel 2022)
Als sich Bruce Banner als Mansplaining-Experte outet und Jennifer sagt, dass sie wie er als Hulk viele Jahre üben müsse, ihre Wut und ihre Angst in den Griff zu bekommen, antwortet sie: „Wut und Angst bestimmen das Leben jeder Frau. Ich bin großartig darin, meinen Zorn zu kontrollieren. Schließlich mache ich das andauernd. Etwa wenn ich auf der Straße belästigt werde, wenn mir inkompetente Männer Dinge erklären, mit denen ich mich viel besser auskenne als sie. Ich reiße mich jeden Tag zusammen. Ich bin eine Expertin darin, meine Gefühle zu unterdrücken, weil ich das als Frau viel öfter machen muss als du!“
Jack Urwin hat 2014 den einflussreichen Artikel “A Stiff Upper Lip Is Killing British Men. Talk about what's on your mind and it could end up saving your life.” veröffentlicht. Er erzählt die Geschichte seines Vaters, der ihm als er 9 Jahre alt war und ihn fragte, wie es ihm geht, meinte „Besser“, ins Badezimmer ging und dort an einem Herzinfarkt starb. Es stellte sich heraus, dass er auch schon früher Infarkte hatte, aber nie einen Arzt aufgesucht hatte und nie über Beschwerden geklagt hatte. Jack Urwin nennt diese Verhaltensweise „toxic masculinitiy“, das Nicht-Sprechen über Gefühle, das buchstäblich krankmacht und tötet. Bei diesem Konzept zielt die männliche Sozialisation auf Härte, Unverwundbarkeit, Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen und instrumentellen Körpereinsatz. Aus diesem Männlichkeitsbild ergibt sich ein Tabu, Hilfe zu suchen. Mann muss immer alles im Griff haben, kennt keinen Schmerz, beißt die Zähne zusammen und macht die Dinge mit sich selbst aus. Der Körper hat zu funktionieren. Männer gehen oft seltener und später zum Arzt, leben risikoreicher (z.B. beim Sport, beim Autofahren, bei Alkoholkonsum und Ernährung) und sterben früher als Frauen. Dieses giftige Bild von Männlichkeit zerstört nicht nur die Gesundheit von Männern, sondern sie schadet klarerweise auch ihren Kindern, Partnerinnen und ihrer ganzen Umgebung. Die Scham über die eigene Bedürftigkeit wird aggressiv ausagiert, gegen sich selbst und gegen andere.
Verletzlichkeit ist geschlechtsspezifisch konnotiert: Das klassische hegemoniale Konstrukt „Männlichkeit“ ist gekennzeichnet durch die Verleugnung von Verletzbarkeit, Undurchdringlichkeit, Härte, Aktivität und Verletzungsmächtigkeit gegenüber anderen (auch gegen „unmännliche“/schwule Männer, in gewaltvoller Abgrenzung; mit unkonventionellen Lebensweisen erfahren Männer immer noch in manchen Bereichen Sanktionen, z.B. in Karenz zu gehen, Teilzeit zu arbeiten, um Kinderbetreuung zu übernehmen ); das Konstrukt „Weiblichkeit“ ist dagegen gekennzeichnet durch Verletzungsoffenheit, Schutzbedürftigkeit, Passivität – zugespitzt: ein potenzielles Opfer. Sinnvoll erscheint es darum, die Verletzbarkeit beider Geschlechter in den Blick zu nehmen, ebenso wie die Handlungsfähigkeit und damit Verletzungsmächtigkeit beider.
Aufgrund der geschlechtsspezifischen Sozialisation und Bewertung ergeben sich in der psychosozialen Beratung unterschiedliche Notwendigkeiten:
Bei Frauen geht es oft darum, auch negativ konnotierte Gefühle wie Wut und Zorn zuzulassen und für die eigene Selbstbehauptung zu nützen, insgesamt also die eigene Handlungsfähigkeit zu stärken; bei Männern geht es oft darum, einen anderen Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit zu entwickeln als aggressive Abwehr. Es geht also auch um ein Ertragen der eigenen Bedürftigkeit und ein Umgehen mit der Unkontrollierbarkeit von Menschen und Situationen. Die Herausforderung für männlich sozialisierte Personen besteht darin, die eigene Verletzlichkeit anzuerkennen, zu akzeptieren und zum Ausdruck zu bringen, anstatt sie abzuwehren.
Bei Gewalt in Paarbeziehungen geht es für Männer sehr häufig um das Nicht-Ertragen der Tatsache, dass die Partnerin ein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen, eigenen Vorstellungen und eigenem Willen ist, der verschieden und möglicherweise sogar unabhängig vom eigenen ist. Dies stellt die eigene Macht über diese Person in Frage: sie ist nicht mein Besitz, nicht zu meiner Ergänzung/ Vervollständigung meiner Mängel da (z.B. Eifersuchtsmorde in Trennungsphasen: „Wenn ich sie nicht haben kann, dann soll sie auch kein anderer haben.“). Genau das ist TOXISCHE MÄNNLICHKEIT: Die Haltung ES DARF KEINE VERLETZLICHKEIT, KEINE BEDÜRFTIGKEIT IN MIR GEBEN, ICH MUSS IMMER ALLE/S UNTER KONTROLLE HABEN, ganz besonders die eigene Frau, die ich als meinen BESITZ betrachte, als das OBJEKT, das ich (zur Ergänzung) brauche. Das ist die Haltung: Sie darf sich nicht von mir trennen bzw. wenn sie sich von mir trennt, darf sie kein anderer besitzen. Trauern zu lernen, die eigene Kränkung nicht in Gewalt auszuagieren ist eine wichtige Aufgabe in der Männerberatung.
Verletzungsoffenheit als Struktur der Geschlechterdifferenz wird von Mädchen und Frauen als leibliche Realität erfahren. Aufgrund der Mädchen zugeschriebenen höheren Verletzlichkeit werden diese zu einem anderen Umgang mit ihrem Körper sozialisiert („wie ein Mädchen zu sitzen, zu gehen, den Kopf kokett ein wenig schief zu halten...“) durch Aussagen wie „Sei vorsichtig!“, „Sei hübsch, mach dich nicht schmutzig, zerreiß deine Kleider nicht…“ – Wenn das Mädchen die Botschaft „das, was du möchtest, ist gefährlich“ mitbekommt, entwickelt es Ängstlichkeit und hemmt seine Bewegungen). Diese Umgangsweisen und Körperhaltungen sind anders neu- bzw. wieder erlernbar.
Frauen werden in unserer Kultur nie nur als Subjekte, sondern immer auch als Objekte wahrgenommen: Frauenkörper werden sehr viel häufiger als sexualisierte Körper wahrgenommen und bewertet, als Ware in Medien Werbung, und in den Sozialen Medien deutlich. Sie sind Objekte des männlich konnotierten Blicks und Begehrens, Ausdruck einer symbolischen Ordnung. Das heißt nicht, dass nicht einzelne Frauen sich „männlich“, einzelne Männer sich „weiblich“ verhalten. Frauen erfahren sich selbst immer auch als die angeblickten Objekte (mein Körper als das Ding, das beurteilt wird, dessen Weiblichkeit, Attraktivität…) und als Körper für andere („Fürsorgekörper“, Birge Krondorfer). Im Extremfall bei frühem Missbrauch oder anderer Form von Gewalt kann der Körper nicht ins Selbst integriert werden und wird erlebt als „Ding, das nicht mir gehört, das andere benützen können“ (z.B. bei sich selbst verletzenden Klientinnen häufig).
Der verinnerlichte Blick des Anderen, der männlich konnotiert ist, begleitet Frauen und Mädchen permanent, auch wenn ich allein bin, in den Spiegel schaue und mich angeblich „für mich“ schönmache – wessen Norm will ich da entsprechen - dauerndes Überwachen des Körpergewichts, beständiges Körper-Bearbeiten. Dieser verinnerlichte Blick bewirkt eine Selbstbeschränkung und hemmt Frauen dabei, sich unbefangen zu bewegen und Raum einzunehmen, z.B. Gliedmaßen eher bei sich behalten, nicht breitbeinig sitzend Raum einnehmen, denn das würde noch stärker zur Sexualisierung einladen.
Zugespitzt formuliert: Diese „Grammatik der Gewalt“ (Marcus 1992) positioniert Frauen als Objekte der Gewalt und Subjekte der Angst. Der weibliche Körper wird als schwach, schutzbedürftig und verletzungsoffen konstituiert, der männliche Körper als potenziell gefährlich. Diese Konstruktion ist immer auch ein räumlicher Disziplinierungsdiskurs: Frauen sollen sich nicht ohne männlichen Beschützer in der Öffentlichkeit bewegen, obwohl die weit überwiegende Mehrzahl der Übergriffe, die Frauen erleben, im privaten Raum, vom eigenen Partner bzw. Expartner ausgeübt wird. Diese Konstruktion schadet beiden Geschlechtern, weil sie eine Begegnung zwischen gleichberechtigten Partner*innen erschwert.
Außerdem wird hier gerne Rassismus mit Sexismus kombiniert, indem behauptet wird, Gewalt von Männern an Frauen sei ein importiertes Problem der „Fremden“, bei uns gäbe es „sowas“ ja längst nicht mehr. Das widerspricht ganz stark meiner Beratungserfahrung.
Ich gehe nicht von einem unterschiedlichen Ausmaß an Aggression in Frauen und Männern aus. Frauen und Männer werden jedoch sozialisiert, ihre Gefühle tendenziell unterschiedlich zu zeigen. In bestimmten Situationen sind von Frauen und Männern unterschiedliche Arten des Gefühlsausdrucks normativ gefordert.
Ob man mit Zorn oder Scham auf eine Situation reagiert, hängt davon ab, ob man sich selbst oder den anderen im Unrecht glaubt. Das wiederum hängt davon ab, was die je spezifische Geschlechterordnung für Frauen und Männer vorsieht – darf sich eine Frau als verletzungsmächtig und ein Mann als verletzlich zeigen?
In der Beratung berichten viele Frauen, die Gewalt durch ihren Partner erlebt haben, von ihrer Erstarrung, die sie daran hindert, sich zu wehren. Viele tragen die Telefonnummer der Beratungsstelle jahrelang mit sich herum, bis sie den Mut finden, einen Termin zu vereinbaren. Viele berichten vom quälenden Schamgefühl, die Übergriffe zugelassen zu haben. Häufig beschreiben die Frauen auch eine Art Globusgefühl, das ihnen den Hals zuschnürt, ihre Stimme erstickt und sie daran hindert, sich verbal zur Wehr zu setzen. Hier werden verinnerlichte, verkörperte Geschlechternormen deutlich. Diese Empfindungen haben mit der unterschiedlichen Bewertung des Verhaltens von Frauen und Männern zu tun. Polemisch zugespitzt: Eine Frau schlägt nicht zu, einem Mann kann das schon mal passieren. Die symbolische Ordnung verwehrt Frauen die Subjektposition der Gewalt Ausübenden (denn Verletzungsmächtigkeit ist symbolisch mit Männlichkeit assoziiert). Diese geschlechtsspezifischen Normen für den Ausdruck von Gefühlen wirken auf unsere Wahrnehmung dieser Gefühle zurück und schaffen somit tendenziell unterschiedlich agierende Geschlechter.
Die Schilderungen der Gewalt, die Frauen erlebt haben, beinhalten neben der Scham auch das Gefühl der Unfähigkeit, selbst zornig zu werden, dem Zorn dessen, der sie angreift, ebenfalls mit Zorn über diese Grenzüberschreitung entgegenzutreten. Nicht selten geben sich geschlagene Frauen selbst die Schuld an den Übergriffen und reagieren sozusagen stellvertretend für den Angreifer mit Scham auf die Verletzung, die ihnen zugefügt wurde. „Irgendetwas werde ich wohl falsch gemacht haben, weil er mich geschlagen hat“; Illusion: „Wenn ich nichts ‚falsch‘ mache, dann hört die Gewalt auf.“ Tatsächlich kann alles zum angeblichen ‚Anlass‘ für weitere Gewalt dienen, weil es sich ja nicht um problematisches Verhalten der Frau handelt, sondern um das Problem des Gefährders, der nicht anders mit seinen Aggressionen umgehen kann als zuzuschlagen – zumindest bei seiner Partnerin, in der Arbeit wird er sehr wohl ausreichend Impulskontrolle zeigen). Täter-Opfer-Umkehr, Beschuldigung des Opfers (victim-blaming) und gaslighting sind typische Strategien von gewalttätigen Personen: „Du bist schuld, weil du bringst mich dazu, dich anzuschreien, dich zu schlagen.“ oder „Das bildest du dir alles nur ein, das war gar nicht so, du bist ja verrückt und gehörst auf die Psychiatrie!“
Mehr zu den Anzeichen, Formen und Folgen von Gewalt findet Ihr in unserem Handbuch „Ist das schon Gewalt? Gewalt erkennen und verändern“:
https://frauenberatenfrauen.at/download/FBF-Handbuch-final-Screen.pdf
Mehr Wissen und Bewusstsein darüber, wie wir „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ im Alltag hervorbringen, erweitert unsere Handlungsfähigkeit. So können wir den uns täglich zugemuteten Normalitätsnötigungen mit mehr Eigenwilligkeit begegnen. Im Bewusstsein: „Ich stelle ‚Weiblichkeit’ und ‚Männlichkeit’ her“ wird diese Herstellung auch anders, selbstbestimmter als bisher, denkbar. Ziel feministischer Beratung ist nicht die bloße Symptombeseitigung und das Funktionieren im bestehenden System, sondern die Erweiterung von Lebens- und Handlungsmöglichkeiten. Es ist sinnvoll, unsere impliziten normativen Vorstellungen davon, was eine Frau oder einen Mann ausmacht, explizit zu machen, zur Sprache zu bringen und damit verhandelbar zu machen. Die traditionellen „Schrumpfformen von Weiblichkeit und Männlichkeit“ (Christina Thürmer-Rohr) können erweitert, lebendiger und vielfältiger gestaltet werden. Aus der resignierten Feststellung „Es ist so“ kann die neugierige Frage entstehen: „Wie könnte es anders sein?“ als befreiende Perspektive für neue Möglichkeiten eines guten Lebens. Das Ziel feministischer Beratung ist mehr Handlungsfreiheit im Denken, im Handeln und im Gefühlsausdruck für alle Geschlechter!
Feministische Beratung stärkt Mädchen und Frauen, aber auch Burschen und Männer, die an einer gleichberechtigten, gewaltfreien Gesellschaft und liebevollen Beziehungen, die auf gegenseitigem Respekt beruhen, interessiert sind.
Mädchen und Frauen können sich an Frauen- und Mädchenberatungsstellen sowie Frauennotrufe wenden https://www.netzwerk-frauenberatung.at/
Burschen und Männer an die Männerberatungsstellen https://www.maennerinfo.at/
Wir von Frauen* beraten Frauen* verstehen uns auch als Anlaufstelle für Trans*Personen sowie inter- und non-binäre Menschen. Zum Abschluss noch eine herzliche Einladung, unsere Onlineberatung zu nützen, gerne auch anonym: https://frauenberatenfrauen.at/
Literatur:
Beauvoir, Simone de (1951): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Rowohlt: Reinek b. Hamburg
Bourdieu, Pierre (1997): Männliche Herrschaft revisited. In: Feministische Studien 1997/2, 88-99.
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FRA-Studie der Agentur der EU für Grundrechte (2014): https://fra.europa.eu/de/publication/2014/gewalt-gegen-frauen-eine-eu-weite-erhebung-ergebnisse-auf-einen-blick
GiG-net (Hg.)(2008): Gewalt im Geschlechterverhältnis. Erkenntnisse und Konsequenzen für Politik, Wissenschaft und soziale Praxis. Opladen & Farmington
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Schröttle, Monika / Ansorge, (2009): Gewalt gegen Frauen in
Paarbeziehungen – eine sekundäranalytische Auswertung zur
Differenzierung von Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und
Unterstützung nach erlebter Gewalt. Ein Forschungsprojekt des
Interdisziplinären Zentrums für Frauen- und Geschlechterforschung
(IFF) der Universität Bielefeld im Auftrag des Bundesministeriums für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin.
https://www.bmfsfj.de/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf; Ergänzte und aktualisierte Fassung von 2015:
https://www.bmfsfj.de/blob/93970/957833aefeaf612d9806caf1d147416b/gewalt-paarbeziehungen-data.pdf
Schröttle, Monika / Glade, Nadine (2020): „Gesundheitliche Folgen von
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Schröttle, Monika (2017): Gewalt in Paarbeziehungen. Expertise für den
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Tricht, Jens van (2020): „Warum Feminismus gut für Männer ist“. Berlin: Christoph Links Verlag
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Zehetner, Bettina (2010): Feministische Trennungsberatung. Von der Abhängigkeit über die Ambivalenz zur Autonomie. In: Frauen beraten Frauen. Institut für frauenspezifische Sozialforschung (Hg.in): Feministische Beratung und Psychotherapie. Gießen: Psychosozial Verlag, 99-111.
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Zehetner, Bettina (2020): „There is a Pussy Riot inside you!“ Freiheit und feministische Beratung. In: Frauen* beraten Frauen* (Hg.in): Freiheit und Feminismen. Feministische Beratung und Psychotherapie. Gießen: Psychosozial Verlag
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Zehetner, Bettina (2018): „Karrieregeile Rabenmutter!“ In: Sorority (Hg.): No More Bullshit! Strategien gegen Stammtischweisheiten. Wien: Kremayr & Scheriau 2018, 72-77.
Zur Autorin: Dr.in Bettina Zehetner ist Philosophin und psychosoziale Beraterin im Verein Frauen* beraten Frauen*
https://homepage.univie.ac.at/bettina.zehetner/publikationen.html