Was heißt es als geflüchtetes Kind und junger Erwachsener in Österreich anzukommen? Worauf können diese besonders vulnerablen Menschen zählen und worauf nicht? Und wie können wir uns einbringen? Ein erschreckender Einblick in die österreichische Vorgangsweise mit geflüchteten Minderjährigen und ein Aufruf an uns, zu handeln.
In Episode #11 sind Lisa Wolfsegger von der Asylkoordination Österreich und Roswitha Feige vom Pfarrnetzwerk Asyl zu Gast.
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Flucht und Migration sind Teil unserer Gesellschaft und des Weltgeschehens. Immer mehr geflüchtete Menschen begegnen uns im Alltag, sie sind Kolleg:innen, Nachbar:innen oder Klassenkolleg:innen. Oft lernen wir so Menschen kennen, die durch Krieg, Verfolgung und lebensgefährliche Flucht unvorstellbare Belastungen durchleben mussten. Von außen sind diese Erfahrungen auf den ersten Blick jedoch selten ersichtlich.
Noch nie waren so viele Kinder auf der Flucht wie heute. Laut UNICEF sind aktuell 43,3 Millionen Kinder aufgrund von Flucht oder Migration entwurzelt. In Ländern, in denen laufende Kriege und bewaffnete Konflikte herrschen, wie der Ukraine, Syrien, oder Somalia, ist die Lage besonders schwer für Kinder und Jugendliche. Gleichzeitig nehmen extreme Wetterereignisse und Umweltkatastrophen zu. Vor allem im globalen Süden müssen deshalb viele Menschen ihren Wohnort verlassen. Millionen Kinder leben in Flüchtlingslagern oder improvisierten Unterkünften und ziehen oft viele Jahre von Lager zu Lager, auf der Suche nach einem sicheren Hafen. Immer wieder kommt es vor, dass Kinder und Jugendliche bei ihrer Flucht von ihrer Familie getrennt werden oder diese zurücklassen müssen.
Zwischen 2015 und 2022 haben laut dem Bundesministerium für Inneres rund 35.000 unbegleitete Kinder in Österreich um Asyl angesucht. Nur in etwa 5.000 Fällen wurde ein Bleiberecht gewährt. Der Prozess, der klären soll, ob diese jungen Menschen in Österreich Recht auf Schutz haben, sollte optimalerweise nur wenige Monate dauern. Dadurch könnten diese schnellstmöglich zur Ruhe finden, sich Perspektiven erarbeiten und in die Gesellschaft integriert. Das Asylverfahren in Österreich hat jedoch einige Herausforderungen für geflüchteten Kindern, die das Ankommen erschweren.
Kinder teilen die gleichen Menschenrechte wie alle Erwachsenen – mit der UN-Kinderrechtskonvention kommen sogar zusätzliche Rechte und Schutzpflichten ins Spiel, die exakt auf die Bedürfnisse von Kindern zugeschnitten sind. Doch in der Umsetzung dieser Rechte sind Kinder von Erwachsenen abhängig. Viele Möglichkeiten stehen in Österreich nur für Menschen offen, die bereits die Volljährigkeit erreicht haben. Erst dann ist man voll geschäftsfähig, kann einen Mietvertrag oder eine Versicherung abschließen, einer schweren Operation zustimmen oder einen Lehrvertrag unterschreiben. Davor ist für all diese Aktivitäten immer die Unterstützung eines Erwachsenen notwendig. Daraus ergibt sich, dass Kinder besonderen Schutz und Beistand benötigen. Sie sind bei essenziellen Entscheidungen ihres Lebens immer an das Wohlwollen eines Erwachsenen gebunden.
Um das Wohlergehen von unter 18-Jährigen sicherzustellen, gibt es in Österreich spezielle Kinderrechte. Diese basieren auf internationalen und nationalen Vereinbarungen und Gesetzen. Ziel der Kinderrechte ist, dass Kinder durch die Orientierung an ihren Rechten stark, sicher, gesund und in Menschenwürde aufwachsen können. In Österreich gilt folgender Grundsatz: “Erwachsene haben Rechte und Pflichten gegenüber minderjährigen Kindern und Jugendlichen. Jedes Kind ist bis zu seinem 18. Geburtstag unter der Obsorge einer oder eines Erwachsenen”. Sollten die obsorgeberechtigten Erwachsenen, für gewöhnlich die Eltern des Kindes, aus einem Grund nicht in der Lage sein, die angemessene Betreuung, Pflege und Erziehung des Kindes sicherzustellen, übernimmt eine Organisation des Bundes oder Landes die Obsorge. Das System ist so gestaltet, dass Kinder in Österreich nie ohne eine obsorgeberechtigte Person sind. Gerade bei Kindern, die extreme Erfahrungen wie Gewalt, Missbrauch oder Flucht erleben mussten, ist dies essenziell, da diese oftmals Unterstützung bei juristischen und medizinischen Angelegenheiten benötigen.
Leider werden geflüchtete Kinder, die ohne ihre Eltern nach Österreich kommen, in diesem System nicht mitgedacht. Wenn Kinderflüchtlinge zwischen 14- und 18 Jahren in Österreich ankommen und ihren Antrag auf internationalen Schutz stellen, werden sie zunächst in Einrichtungen des Bundes untergebracht. Die Unterbringung in den Bundesbetreuungseinrichtungen sollte eigentlich nur wenige Tage bis wenige Wochen dauern, bis die Zuständigkeit Österreichs für das Asylverfahren geklärt ist. In dieser sensiblen Anfangsphase wird diesen Kindern keine professionelle Person zur Seite gestellt, die die rechtliche Obsorge übernimmt und somit das Kindeswohl im Auge hat. Dieser Zustand ist schon für wenige Tage problematisch. Da die Bundesländer aber zu wenige Unterkunftsmöglichkeiten für unbegleitete geflüchtete Kinder bereitstellen, kommt es in den Einrichtungen des Bundes zum Stau! Auch wenn ein Asylverfahren in Österreich beginnt, müssen diese jungen Menschen oftmals Monate in Einrichtungen verbringen, die nur für eine wenige Tage andauernde Unterbringung konzeptioniert sind. So gibt es oft kaum Rückzugsorte, ausschließlich Mehrbettzimmer und wenig soziale und pädagogische Betreuung. Das erhöht den Druck auf junge Menschen, die eigentlich so schnell wie möglich ein stabiles Zuhause benötigen, um die traumatischen Ereignisse der Flucht verarbeiten zu können. Im Jahr 2022 war die durchschnittliche Wartedauer 131 Tage, also über 4 Monate. Es gibt aber auch Fälle, in denen Kindern über ein Jahr warten mussten. In dieser schwierigen Zeit sind diese Kinder ohne Obsorge und auf sich allein gestellt.
Ein Kind oder eine jugendlicher junger Mensch sollte unserer Meinung nach niemals ohne eine obsorgeberechtigte Person und ohne altersgerechte Betreuung sein. Die Länder sind der Auffassung, dass der Bund für die in den Bundesbetreuungseinrichtungen untergebrachten Kinder und Jugendlichen zuständig ist. Der Bund wiederum verweist auf die Länder. Beide Parteien übernehmen in dieser vulnerablen Anfangsphase routinemäßig keine Obsorge. Dadurch kommt es zur Situation, dass für hunderte Kinder und Jugendliche in Österreich kein Obsorgeberechtigter zuständig ist. Damit widerspricht das Vorgehen Österreichs sowohl der UN-Kinderrechtskonvention als auch dem BVG Kinderrechte und natürlich der EU-Aufnahmerichtlinie, die ebenfalls die besondere Schutzbedürftigkeit von unbegleiteten Kindern und Jugendlichen betont. Die Sicherheit und bestmögliche Entwicklung eines Kindes ist nicht gewährleistet, wenn für eine nicht unerhebliche Zeitspanne niemand die Zuständigkeit übernimmt, der/die die Interessen und Bedürfnisse des Kindes wahrnimmt, es unterstützt und ihm, soweit notwendig, Schutz zukommen lässt!
Im Jahr 2022 sind über 11.000 Minderjährige aus den österreichischen Betreuungseinrichtungen verschwunden. Wie viele davon bei Verwandten und Freunden unterkamen, in ein anderes Land weiterzogen oder Opfer von kriminellen Gruppen, Ausbeutung oder Kinderhandel wurden, ist schwer abzuschätzen. Im internationalen Vergleich bietet Österreich ein trauriges Bild. Die meisten vergleichbaren Länder haben deutlich bessere Systeme zum Schutz geflüchteter Kinder. Gesetzesentwürfe sind ausgearbeitet und nicht besonders kompliziert, scheitern bisher jedoch an Diskussionen über die Verantwortlichkeit zwischen Bund und Ländern.
Wenn geflüchtete Kinder aus einer Einrichtung des Bundes in eine Einrichtung des Landes überstellt werden, übernimmt auch eine Institution des Landes die Obsorge. Von nun an gibt es erwachsene Personen, die unter anderem das Kindeswohl im Blick haben, bei medizinischen Anliegen helfen und durch das komplizierte Asylverfahren begleitet. Die Unterbringung erfolgt für gewöhnlich in Wohngemeinschaften, in denen sich professionell ausgebildete Betreuer:innen um die Kinder kümmern. Die Finanzierung erfolgt hier über Tagsätze. Für jedes betreute Kind bekommt die Organisation eine gewisse Summe, um den Schlafplatz, die sozialpädagogische Betreuung, Ernährung, Kleidung und alles weitere im Leben des Kindes zu organisieren, und ein den Umständen entsprechendes möglichst gutes Aufwachsen zu ermöglichen.
Hier zeigt sich leider eine weitere Schieflage im Umgang mit geflüchteten Kindern. Die Ansprüche an die Unterbringung und Betreuung von Kindern ist ähnlich, unabhängig davon ob diese Kinder in Österreich geboren wurden, aus anderen EU-Ländern stammen oder ohne ihre Eltern nach Österreich geflohen sind. Dennoch unterscheiden sich die gezahlten Tagsätze drastisch. Der Tagsatz für österreichische fremduntergebrachte Kinder liegt bei 170 Euro pro Kind und kann anlassbezogen auch Höher sein. Bei unbegleitet geflüchteten Kindern beträgt er 95 Euro. Daraus ergibt sich, dass Einrichtungen für die Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen nur schwer finanziert werden können, und dass diese starke Abstriche in der Qualität der Betreuung machen müssen. Aber gerade diese jungen Menschen bräuchten mehr professionelle Betreuung, um durch eine sozialpädagogische Begleitung einen geregelten Alltag zu schaffen, ihnen Perspektiven aufzuzeigen und sie in die Gesellschaft zu integrieren. Der unterschiedliche Umgang mit geflüchteten Kindern beruht hierbei auf keinerlei pädagogischem Konzept oder fachlich argumentier barem Ansatz. Die Vermutung liegt nahe, dass hier Symbolpolitik auf dem Rücken von jungen Menschen betrieben wird.
Die Liste der Probleme ist lange. Die zwei hier exemplarisch herausgegriffenen Systemfehler sind nur Platzhalter für eine Reihe von weiteren Themen. Gleichzeitig bekommt man von politischer Seite leider oft zu hören, welche Unsummen der Staat für Menschen ausgibt, die dann „Probleme bereiten und sich nicht integrieren wollen“. Wenn junge Menschen über lange Zeit ohne Betreuung sind und dann bei der Unterbringung eingespart wird, werden diese nicht wie von Zauberhand zu glücklichen und produktiven Teilen der österreichischen Gesellschaft. Kinder brauchen Perspektiven, Hoffnung, Liebe uvm., gerade in der Fremde. Dass dennoch so viele Erfolgsgeschichten geflüchteter Kindern und Jugendlicher zu verbuchen sind, ist zu einem guten Teil dem großartigen Einsatz engagierter hauptamtlicher Mitarbeiter:innen aber auch freiwilliger Helfer:innen zu verdanken!
Die Möglichkeiten zu helfen sind genauso zahlreich wie die Talente der Menschen, die helfen wollen. Manche organisieren Sprachkaffees oder Lernhilfen, andere nehmen geflüchtete Jugendliche in ihren Sport- oder Kulturverein mit. An vielen Orten organisiert die Gemeinden kleine Projekte für geflüchtete Kinder und Jugendliche. Es gibt Patenschaftsprojekte (etwa das Pat:innenprogramm „connecting people“ der Asylkoordination Österreich) bei denen ein geflüchteter junger Mensch über einen längeren Zeitraum ehrenamtlich begleitet wird. Viele Organisationen, die mit Kinderflüchtlingen zusammenarbeiten, wie etwa das Don Bosco Sozialwerk, freuen sich über ehrenamtliche Hilfe. Oft engagieren sich Ehrenamtliche in der Betreuung, etwa in Sport-, Kunst- und Kreativprojekten und werden zu wichtigen Bezugspersonen der geflüchteten Kinder und Jugendlichen. Teilweise entstehen hier Freundschaften, die ein Leben lang anhalten. Aber auch in der Verwaltung, in der Öffentlichkeitsarbeit oder bei der Instandhaltung kann geholfen werden. Gleichzeitig darf die großartige Institution des Ehrenamts nicht dafür verwendet werden, dass staatliche Stellen ihre Verantwortung für unser Sozialsystem auf diese abwälzen.
Ein erster -großer!- Schritt im Einsatz für geflüchtete Kinder ist bereits erreicht, wenn Sie bis an diese Stelle gelesen haben. Das größte Problem im Einsatz für die bessere Versorgung geflüchteter Kinder ist nicht die Ablehnung der breiten Bevölkerung. Die meisten Menschen in Österreich wissen schlichtweg nicht um diese Probleme. Unser Appell an Sie: reden Sie über das Thema. Sprechen sie mit Menschen in Ihrem Umfeld, tauschen sie Gedanken dazu aus, sprechen sie mit politischen Verantwortlichen. Unterschätzen Sie nicht die Kraft des Dialogs! Es wird in diesem Zusammenhang oft an christliche Werte und Tugenden appelliert. Allen voran wird oft die Liebe und die Barmherzigkeit genannt wenn es um die schwächsten in unserer Gesellschaft geht. Ich mag hier zwei weitere essenzielle Anführen: die Gerechtigkeit und das Recht (Psalm 33,5 „Gott liebt die Gerechtigkeit und das Recht“)! Behandeln wir diese jungen Menschen fair und setzen wir die Kinderrechte um, zu denen wir uns als Staat und Gemeinschaft bekennen!
Mag. Lukas Manzenreiter, MA ist Bereichsleiter von "Begegnen & Bewegen" und Einrichtungsleiter vom Kinder- und Jugendzentrum Come In.
Anmnesty International: Warum unbegleitete Kinder in Österreich dringend besseren Schutz brauchen (https://www.amnesty.at/themen/unbegleitete-gefluechtete-kinder-in-oesterreich/warum-unbegleitete-gefluechtete-kinder-in-oesterreich-dringend-besseren-schutz-brauchen/#begriff-umf) Zugriff am 5.9.2023
AsylkoodrinationÖsterreich: Asyl- und Fremdenpolizeiliches Verfahren und Rückkehr (https://archiv2022.asyl.at/de/themen/kinderfluechtlinge/asylverfahrenfuerfluchtwaisenumf/index.html) Zugriff am 5.9.2023
Bundesministerium für Inneres: Asylstatistik 2022 (https://www.bmi.gv.at/301/Statistiken/files/Jahresstatistiken/Asylstatistik_Jahresstatistik_2022.pdf) Zugriff am 5.9.2023
Kommission für den Schutz der Kinderrechte und des Kindeswohls im Asyl- und Fremdenrecht (2021): Bericht 13. Juli 2021.
Plattform „Gemeinsam für Kinderrechte“: Aktion Obsorge jetzt! (https://gemeinsamfuerkinderrechte.at/) Zugriff am 5.9.2023
UNICEF (1989): Konvention über die Rechte des Kindes