„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ (UN-Menschenrechtscharta)
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Impulse aus der Schöpfungstheologie für eine geschlechterfaire Anthropologie
Das menschliche Zusammenleben wurde und wird in verschiedenerlei Hinsicht als Ungleichheitsgefüge konstruiert. Dies gilt besonders im Hinblick auf eine Hierarchisierung innerhalb der Geschlechtlichkeit des Menschen. Das katholische Kirchenrecht kennt bis heute keine Gleichstellung der Geschlechter.[1] Auch hat der Heilige Stuhl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die Eingang in die UN-Menschenrechtscharta fand, nach wie vor nicht ratifiziert.[2] In ihr lesen wir: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“[3] – verfasst 1948, wenige Jahre, nachdem dieser Grundsatz auf verbrecherische und mörderische Weise gebrochen wurde. Das Prinzip „gleich an Würde und Rechten“ gilt für alle Menschen, und doch sieht die von Menschen gemachte Weltordnung bis heute oft anders aus. Ungleichheiten im sozialen und ökonomischen Bereich etwa schränken die Lebens- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten vieler ein. Wenngleich im Europa des 21. Jh. bereits vieles der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg verkündeten Menschenrechtserklärung verwirklicht wurde, besteht Gleichheit in einigen Bereichen, etwa was eine gerechte Entlohnung, betrifft, zu oft nur auf dem Papier – ein Umstand, der nicht zuletzt oftmals Frauen betrifft.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beschreibt in vielfacher Hinsicht einen Idealzustand – und keinen global verwirklichten Ist-Zustand. Sie entwirft eine Vision, wie sie schon rund zweieinhalb Jahrtausende früher die biblische Schöpfungstheologie zum Ausdruck gebracht hat. Die Schöpfungstexte sind keine Erklärung über naturwissenschaftliche Vorgänge, wie sie lange Zeit missverstanden wurden, sondern Hoffnungstexte, die den Weg zu einem gedeihlichen Miteinander aufzeigen wollen. Sie machen dies subtil, indem sie die von Gott angelegte Schöpfung der von Menschen gemachten gegenüberstellen (vgl. Gen 1–9). So gelesen entfaltet die biblische Schöpfungstheologie bis heute ein immenses Gerechtigkeits- und Befreiungspotenzial:
„Die herrschenden Verhältnisse konfrontiert sie mit der Utopie einer lebensfreundlichen Welt. Diese Utopie ist zugleich der Maßstab, an dem die defizitäre Gegenwart kritisch gemessen wird.“[4]
Der Gleichheitsgrundsatz aller Menschen findet sich bereits in den ersten Zeilen der Bibel – und damit an einer Position, die dessen herausragende Bedeutung unterstreicht: „Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn, männlich, weiblich schuf er sie“ (Gen 1,27), so der Wortlaut in der Buber-Rosenzweig-Übersetzung. Die Bibel demokratisiert die Gottesbildlichkeit des Menschen im Unterschied zu altorientalischen Vorstellungen, deren zufolge allein der König als Bild Gottes angesehen wurde. Alle Menschen, ohne Unterschied der Geschlechter, sind in der Sprache des Buches Genesis „im Bilde Gottes“ geschaffen und damit gleich an Würde. Sie bevölkern das Lebenshaus Erde, das von Gott eingerichtet wurde und das in seinen Augen „sehr gut“ ist (vgl. Gen 1,31).
In der Anthropologie der ersten Schöpfungserzählung bildet die sexuelle Differenz die einzige benannte Verschiedenheit, jedoch intendiert diese keinerlei Über- oder Unterordnung. Die göttliche Geschlechterordnung ist egalitär entworfen und wird nach biblischem Befund in der gebrochenen Schöpfungsordnung hierarchisch gelebt.[5] Dass die egalitäre, befreiende Vorgabe des ersten Schöpfungstextes in der antiken Rezeption, etwa in der für das Christentum wirkmächtigen des Paulus, verknüpft mit einer die Frau abwertenden Leseweise der zweiten Schöpfungserzählung (Gen 2–3), realiter unterlaufen wurde, zeigt zum Beispiel 1 Kor 11,7f. (EÜ):
„7 Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. 8 Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann.“
Damit steht Paulus, der die auf Hebräisch verfassten biblischen Schriften in der griechischen, von der hellenistischen Wertewelt geprägten Übersetzung der Septuaginta vor Augen hatte, in der Tradition einer populär hellenistisch-philosophischen Anschauung, der zufolge allein der Mann im vollem Sinne Mensch sei.[6] Frühjüdische und christliche misogyne Rezeptionen der egalitär entworfenen Schöpfungstexte sind in ihrem zeitgenössischen Kontext zu sehen und als zeitbedingt zu bewerten.
Biblische Texte sind kanonische Texte und als solche müssen sie ausgelegt werden – und zwar nicht ein für alle Mal, sondern kontinuierlich. Die zeitüberspannende, ja subversive Kraft der Bibel[7] gibt jeder Generation die Möglichkeit, die alten Texte unter den Bedingungen der Gegenwart zu lesen. Durch Auslegung lassen sich kanonische Texte auf aktuelle Erfahrungswelten beziehen, sogar auf Umstände, die diese nicht kennen konnten. Bernard Levinson betont in diesem Zusammenhang:
„Eine Religion beweist ihre schöpferische Kraft nicht zuletzt darin, daß sie sich auf vielfältige Weise an eine veränderte Wirklichkeit anzupassen und dabei den maßgeblichen, aber textlich begrenzten Kanon einerseits beizubehalten, andererseits durch Interpretation zu transzendieren weiß.“[8]
Kanonische Texte sind per definitionem unveränderlich, dies gilt jedoch nicht für ihre Auslegung. Irmtraud Fischer und Rainer Winter betonen explizit die bleibende Notwendigkeit, die Bibel im Hier und Heute zu deuten:
„Wo eine Rezeptionsgemeinschaft fehlt, die einen kanonischen Text weiterhin als für sie bedeutsam und bindend ansieht, erlischt dessen kanonische Würde. Die Bibel bleibt also nur Bibel, wenn sie weiterhin rezipiert, neu ausgelegt und aktualisiert wird. Dass sich dabei Auslegungskonventionen herausbilden, ist ein logisches Phänomen. Werden diese jedoch zu starren Richtlinien, verschließen sie neuen Deutungen den Eingang in den Traditionsstrom.“[9]
Biblische Texte sind hoch verdichtete sprachliche Kunstwerke voller Symbolkraft und metaphorischer Sinngehalte. Darüber hinaus wird in biblischen Erzählungen vieles nur angedeutet, Details sowie Gefühle oder Gedanken der Protagonistinnen und Protagonisten bleiben oftmals ausgespart, ein literarisches Phänomen, das mit dem Terminus „Leerstellen“ beschrieben wird. Seit jeher wurde in der jüdischen Tradition kreativ mit den Leerstellen der biblischen Texte umgegangen. In der Praxis des Midrasch wurden und werden biblische Narrationen nacherzählt und weitergesponnen. Diese Erweiterungen wurden in der Folge selbst zu einem Teil der autoritativen Schrift. Nach rabbinischer Tradition wurde jede Interpretation, gleichgültig zu welcher Zeit, ursprünglich bereits am Sinai an Mose offenbart. Die Bedeutungen, die in der Schrift gefunden werden können, sind nach rabbinischem Denken unendlich.[10] Für heutige Interpretationen der Bibel scheint mir dies ein inspirierender und ermutigender Ansatz zu sein.
Der priesterschriftliche Schöpfungstext ist ein Schöpfungshymnus, der alles, was ist, als von Gott herkommend deklariert. Er tut dies auf höchst kunstvoll gestaltete Weise und bedient sich dabei der Stilfigur des Merismus, der durchgehend eine Ganzheit durch die Benennung polarer Paare ausdrückt: Tag und Nacht, Wasser und Trockenes, Männliches und Weibliches. Diese Beschreibung ist nicht exklusiv, sondern inklusiv zu verstehen – auch alles, was zwischen diesen Polen liegt, ist Teil des göttlichen, sehr guten Schöpfungswerkes. Denn gehört etwa die Dämmerung nicht zur Schöpfung? Sind Watt und Strand nicht Teil der göttlich geschaffenen Welt?[11]
Die Menschheit als Gesamte in all ihren individuellen Ausprägungen, geschlechtlichen Identitäten und sexuellen Orientierungen ist Bild Gottes. Wer hier Wertigkeiten oder Über- und Unterordnungen zu erkennen glaubt, verkennt die Universalität der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die äußeren Pole der Geschlechtlichkeit, das Männliche und das Weibliche, gewährleisten die Vermehrung und Erhaltung der Spezies Mensch, doch deshalb ausschließlich eine heterosexuelle Orientierung als gottgewollt anzusehen, lässt außer Betracht, dass die gesamte Schöpfung ohne Ausnahme das Prädikat sehr gut erhält.
Die biblische Vision einer egalitären Gesellschaft fordert uns auf, jeden Tag von Neuem für ihre Verwirklichung einzutreten. Elisabeth Schüssler Fiorenza stellt uns dafür folgende Handreichung zur Verfügung:
„Auf unserer Suche nach Visionen und Transformationen können wir nur von der gegenwärtigen Erfahrung ausgehen, die wiederum durch die Erfahrung der Vergangenheit bestimmt ist. Daher müssen wir die Vergangenheit und die Gegenwart analysieren, um kreative Visionen und transzendierende, entgrenzende Imaginationen für eine neue Menschlichkeit, globale Ökologie und religiöse Gemeinschaft zu formulieren.“[12]
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat sich 2003 zu geschlechtlicher Transidentität ausgesprochen und betont, dass die selbstbestimmte Wahl der Geschlechtsidentität ein Menschenrecht ist. 2018 folgte der Österreichische Verfassungsgerichtshof diesem Entscheid, wodurch der Eintrag einer dritten Geschlechtsoption im Reisepass möglich wurde.[13] Bereits im rabbinischen Judentum existierte die Erkenntnis, dass nicht jeder Mensch entweder männlich oder weiblich geboren wird. Rabbinische Texte verwenden zwei Begriffe, tumtum und ʾaylonit, um Menschen intermediären Geschlechts zu beschreiben. Ersterer bezieht sich auf Personen, deren biologisches Geschlecht nicht bestimmbar ist, zweiterer auf eine Frau ohne Gebärmutter. Talmudische Texte erwähnen darüber hinaus auch andere intersexuelle Merkmale. In ähnlicher Weise kannte die christliche Tradition die intergeschlechtliche Kategorie des Hermaphroditen.[14]
In der jüdischen Kabbala ist die erste Schöpfungserzählung sprachlicher Ausdruck des Lebensbaumes, d. h. der Konfiguration der zehn Emanationen (Sefirot) des Göttlichen, die alles Leben hervorrufen. Der Lebensbaum besteht aus einer männlichen, einer weiblichen und einer intermediären Säule. Er ist in seiner Gesamtheit androgyn, und Androgynität kann demnach als Model für jeden einzelnen Menschen gelesen werden: Das Männliche und das Weibliche repräsentieren ein fließendes Kontinuum in jedem Individuum, die es in Harmonie zu bringen gilt.[15]
Von einer ursprünglich nicht ausdifferenzierten Geschlechtlichkeit des Menschen lesen wir bereits in der zweiten Schöpfungserzählung (Gen 2-3). Gott bildet offensichtlich zunächst ein androgynes Menschenwesen: ʾadam, den Erdling, aus der ʾadama, der Ackererde. Sobald Gott aus der Seite des ʾadam eine Frau baut, wird aus ʾadam ein Mann.[16] Eine Geschlechterhierarchie lässt sich daraus nicht ablesen, wie Helen Schüngel-Straumann betont:
„Gen 2 [ist] die einzige Schöpfungsgeschichte im Alten Orient, die die Erschaffung der Frau eigens und ausführlich berichtet. Der Verfasser zeigt Mann und Frau als gleichwertige Partner, beide sind von Gott geschaffen, und beide sind für ein dauerndes Zusammenleben begabt, das von Freude bestimmt ist. Dass die Verhältnisse de facto so nicht sind, ist Thema der zweiten Erzählung in Gen 3.“[17]
Immer wieder von Neuem stellt sich uns als Rezeptionsgemeinschaft biblischer Texte die Frage, welche Interpretationen wir als lebens- und gerechtigkeitsförderlich erachten und welche nicht. Dies gilt ebenso für das gesamte Spektrum der Geschlechtlichkeit und sexuellen Orientierungen des Menschen. Der Blick in die Geschlechteranthropologie der ersten beiden Kapitel des Buches Genesis zeigt, welches Befreiungspotenzial der Bibel innewohnt. Es liegt an uns, dieses Potenzial ins Heute zu transferieren.
[1] Vgl. Lüdecke, Norbert; Mehr Geschlecht als Recht? Zur Stellung der Frau nach Lehre und Recht der römisch-katholischen Kirche, in: Eder, Sigrid / Fischer, Irmtraud (Hg.): „… männlich und weiblich schuf er sie …“ (Gen 1,27). Zur Brisanz der Geschlechterfrage in Religion und Gesellschaft (Theologie im kulturellen Dialog 16), Innsbruck 2009, 183-216.
[2] Vgl. Fries, Anna: Warum die Kirche gegen die Menschenrechtserklärung war, in: https://www.katholisch.de/artikel/19912-warum-die-kirche-gegen-die-menschenrechtserklaerung-war (abgerufen am 4.5.2022).
[3] https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (abgerufen am 4.5.2022). Siehe Petschnigg, Edith: Was ist der Mensch? Im Bilde Gottes geschaffen und gleich an Würde, in: Zeitschrift für Integrative Gestaltpädagogik und Seelsorge 26/101 (2021), 43f.
[4] Benk, Andreas: Schöpfung als Vision einer gerechten Welt. Die Relecture biblischer Schöpfungstexte als Befreiungstheologie, in: Bibel und Kirche 1 (2021), 2–9.
[5] Vgl. Fischer, Irmtraud: Liebe, Laster, Lust und Leiden. Sexualität im Alten Testament (Theologische Interventionen 5), Stuttgart 2021, 45-47.
[6] Vgl. Schüngel-Straumann, Helen: Eva: die erste Frau der Bibel. Ursache allen Übels? Paderborn 2014, 94f.
[7] Vgl. Magonet, Jonathan, Die subversive Kraft der Bibel, Gütersloh 1998.
[8] Levinson, Bernard, „Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen“ (Dtn 13,1): Rechtsreform und Hermeneutik in der Hebräischen Bibel, in: ZThK 103/2 (2006), 157-183, 160f.
[9] Fischer, Irmtraud / Winter, Rainer: „Schrift und Tradition“ versus sola scriptura und „den Leuten auf's Maul schauen“? Der konfessionelle Streit um die Bedeutung der Schrift und deren Auslegung auf dem Hintergrund der neueren Rezeptionsdiskussion, in: JBTh 31 (2016) 25-46, 44f.
[10] Vgl. Carden, Michael: Genesis/Bereshit, in: Guest, Deryn u.a. (Hg.): The Queer Bible Commentary, London 2007, 21-60, 23.
[11] Vgl. Fischer, Liebe, 47.
[12] Schüssler Fiorenza, Elisabeth: WeisheitsWege. Eine Einführung in feministische Bibelinterpretation, Stuttgart 2005, 269.
[13] Vgl. https://www.wien.gv.at/menschen/queer/intersexualitaet/anerkennung-oesterreich.html (abgerufen am 10.5.2022)
[14] Vgl. Carden, Genesis/Bereshit, 27.
[15] Vgl. ebd., 27.
[16] Vgl. Schüngel-Straumann, Helen: Genesis 1-11. Die Urgeschichte, in: Schottroff, Luise / Wacker, Marie-Theres (Hg.): Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh 21999, 1-11, 4.
[17] Schüngel-Straumann, Helen: Eva: die erste Frau der Bibel. Ursache allen Übels?, Paderborn 2014, 153.